Äthiopien: “Wir können nicht protestieren, also beten wir”

Bahir Dar,  Äthiopien (IPS/afr). Nach den Unruhen im August 2016 hat die Regierung in der Region Amhara den Ausnahmezustand verhängt. Das Alltagsleben scheint wieder in geordneten Bahnen zu laufen. Doch Gespräche mit Bewohnern in Bahir Dar und Gonder machen deutlich, dass der Frust weiter wächst.

Am Sonntag, den 7. August 2016, haben zehntausende Menschen in der Provinzhauptstadt Bahir Dar gegen die Regierungspolitik protestiert. Vom Zentrum zogen sie mit in Richtung Nordosten zur Brücke über den Blauen Nil. Viele Protestanten trugen Palmwedel als Zeichen ihrer friedlichen Absicht.

Was nach der Brückenüberquerung passierte – darüber gibt es verschiedene Versionen. Der Protestmarsch machte jedenfalls vor einem Regierungsgebäude unweit der Brücke halt. Manche Augenzeugen erzählen, dass dann ein Protestant versucht hätte, die Nationalflagge Äthiopiens vom Gebäude zu entfernen. Andere sagen, dass einige Demonstranten Steine geworfen hätten.

Wie auch immer – die Sicherheitskräfte fackelten nicht lange. “Sie kamen plötzlich aus dem Gebäude und schossen in Menge”, berichtet ein äthiopischer Priester, der anonym bleiben will. “Meiner Meinung haben sie einfach auf einen Grund gewartet, um schießen zu dürfen.”

Zweifel an Opferzahlen

An diesem blutigen Sonntag im August haben nach Regierungsangaben 27 Menschen ihr Leben verloren haben, bis zum Ende der Woche soll die Zahl auf 52 Todesopfer gestiegen sein. Insgesamt sollen 227 Zivilisten während der Unruhen in der Region Amhara getötet worden sein.

Teilnehmer des Protestmarsches glauben allerdings, dass die tatsächliche Opferzahl viel höher liegt. Der 23-jährige Telekommunikationsingenieur Haile war mitten unter den Demonstranten, als die Sicherheitskräfte das Feuer eröffneten. “An meiner rechten Seite waren zwei Personen, die sofort tot waren. Dem einen wurde in den Kopf geschossen, den anderen traf eine Kugel ins Herz.”

Als Folge der Unruhen hat die Regierungspartei Revolutionäre Demoratische Front der Äthiopischen Völker (‘Ethiopian Peoples’ Revolutionary Democratic Front’, EPRDF) am 9. Oktober 2016 einen sechsmonatigen Ausnahmezustand verhängt, der in der Zwischenzeit um vier weitere Monate verlängert wurde.

Seit dem Beginn des Ausnahmezustand befindet sich die Region für Beobachter in einer Art Dämmerzustand. An der Oberfläche scheinen die Notstandsmaßnahmen zu greifen, das Leben scheint wieder seinen gewohnten Gang zu gehen.

Frustration wächst

Doch die willkürlichen Verhaftungen, Ausgangssperren Versammlungsverbote und Einschränkungen bei Medien- und Internetnutzung können nur oberflächlich verbergen, dass es hinter der Fassade weiter rumort.

Denn in Gesprächen mit den Bewohnern von Bahir Dar wird rasch klar, dass die Unzufriedenheit nicht nachgelassen hat. Stattdessen scheint die Frustration über die staatliche Unterdrückung sogar noch gewachsen zu sein. Angesichts des Ausnahmezustandes bleibt der Bevölkerung nicht mehr viel anderes übrig als zu beten. “Weil die Menschen nicht protestieren können, beten sie härter als je zuvor”, erzählt Stefanos, der im Tourismus arbeitet.

Aus Angst vor dem ‘Command Post’ will Stefanos seinen Nachnamen nicht verraten. Das zentrale Exekutivorgan des Ausnahmezustands untersteht direkt dem Premierminister Hailemariam Daselegn.

“Wenn der Command Post kommt und sagt, dass du mit ihnen gehen musst, dann hast du keine andere Möglichkeit als zu gehorchen”, meint Dawit. Er berichtet von hunderten Personen, die verhaftet worden sind. “Niemand kann sich seines Lebens sicher sein.”

Sehnsucht nach Normalität

Alemante Selassie ist emeritierter Professor am College of William & Mary in Williamsburg im US-Bundesstaat Virginia. Der Äthiopien-Experte sagt, dass das Regime über 20.000 junge Menschen eingesperrt, gefoltert und missbraucht hat. Hunderte Personen seien getötet worden.

Die Regierung tue dies, um den Schein der Ordnung wiederherzustellen, meint Selassie. “Allerdings ist Repression das am wenigsten wirksame Mittel, um Ordnung zu schaffen, wenn es in der Gesellschaft einen grundlegenden Vertrauensbruch zwischen Menschen und ihren Herrschern gibt.”

Das Ausmaß der Gewalt war man bislang in Bahir Dar nicht gewohnt. Die Provinzhauptstadt ist ein beliebter Touristenort, der vor allem wegen seiner Lage am Tana-See und seiner entspannten Atmosphäre geschätzt wird.

Viele Menschen leben vom Tourismus – sie wollen, dass der Ort zur Ruhe kommt. “Die Leute haben die Schwierigkeiten satt”, sagt der Reiseveranstalter Tesfaye, “sie möchten in ihrem Leben vorwärts kommen.”

Ethnische Spannungen

Doch auch Tesfaye will weitere Unruhen nicht ausschließen. Viele Menschen in Bahir Dar kritisieren den Widerspruch zwischen der föderalen Verfassung Äthiopiens und der politischen Realität als zentralistisch verwalteter Entwicklungsstaat. Außerdem werfen sie der Regierung vor, dass sie ethnische Spannungen schüre. So fühlen sich die beiden größten Bevölkerungsgruppen Amhara und Oromo gegenüber den Tigray benachteiligt.

“Vor drei Jahren ging ich noch zur Universität, und niemand kümmerte sich darum, woher du kommst”, sagt Telekommunikationsingenieur Haile. “Jetzt kämpfen Studenten aus Amhara gegen jene aus Tigray.”

“Der Föderalismus ist gut und schlecht”, ergänzt Hailes Freund Joseph. Sein Vater ist aus Tigray, seine Mutter aus Amhara. “Äthiopien hat all diese verschiedenen Gruppen, die stolz auf ihre Sprachen und Kulturen sind. Und obwohl mein Vater aus Tigray ist, kann ich dort nicht arbeiten, weil ich kein Tigrinya spreche.”

Joseph macht ein kurze Pause, bevor er fortfährt. “Allerdings muss man auch sagen, dass die Regierung das Land zusammengehalten hat. Ohne sie wären wir heute Somalia. Alles was die Opposition macht, ist reiner Protest.”

Widerstand in der alten Kaiserstadt

Schauplatzwechsel nach Gonder. Die einstige Kaiserstadt liegt nördlich des Tana-Sees auf 2.133 Metern Höhe. Hier ist der Ton unversöhnlicher als in Bahir Dar. “Die Regierung hat eine Chance auf Frieden, aber nicht die geistigen Fähigkeiten dafür”, meint der Touristenführer Teklemariam. “Wenn es wieder zu Protesten kommen, werden sie schlimmer sein als bisher.”

Die Hauptstraße zwischen Gonder und Bahir Dar windet sich durch die gebirgige Topographie der Region. Die Unzugänglichkeit des Gebiets hat in der Vergangenheit ausländische Invasoren zum Verzweifeln gebracht. Aber auch der aktuellen Regierung bereitet Amhara Kopfzerbrechen. Der Widerstand scheint hier tief verwurzelt.

Viele Männer in Gonder reden mit Bewunderung über eine bewaffnete Widerstandsbewegung von Landwirten, die seit Monaten Guerilla-Angriffe auf Soldaten verübt. “Die Bauern sind bereit, für ihr Land zu sterben”, meint der Priester aus Bahir Dar.

Verehrung von Rebellenführern

Der Krankenpflegeschüler Henok aus Gonder hat ebenfalls an den Protesten teilgenommen. “Ich habe im Krankenhaus von Gonder Dutzende Soldaten gesehen, die Kugel- und Messerwunden hatten”, erzählt er, “die Regierung kontrolliert nur die Städte, aber nicht die ländlichen Gebiete.”

Viele junge Männer wie Henok verhehlen ihre Bewunderung für die Anführer des Widerstands nicht. Zu diesen Vorbildern zählen etwa Oberst Demeke Zewdu, der im Jahr 2016 inhaftiert worden ist, oder der im Februar getötete Bauernführer Gobe Malke.

Die 65-jährige Großmutter Indeshash lebt in Gonder und ist wegen ihrer kaputten Beine ans Haus gebunden. “Bevor ich sterbe, möchte ich ein Äthiopien sehen, dass friedlich wächst und nicht durch die Stämme geteilt ist”, sagt sie, “wenn meine Beine funktioniert hätten, wäre ich selbst bei den Protesten mit marschiert.” (Ende)

James Jeffrey