Dschibuti: Auf der falschen Seite des Meeres

Obock. Trotz Gesichtsschleier kann man sehen, dass Gada weint. Die Tränen sind in den Augen der 20-jährigen Jemenitin eindeutig erkennbar. Wie viele ihrer Landsleute hat Gada ihrem Heimatland wegen des Krieges den Rücken gekehrt. Nun wartet sie im Flüchtlingslager der dschibutischen Küstenstadt Obock auf das Ende des Konflikts.
Im Jemen kämpfen seit dem Jahr 2013 schiitische Huthi-Rebellen gegen die Armee der Zentralregierung. Nach dem Vormarsch der Rebellen auf Aden kam es am 25. März 2015 zur Invasion einer Militärallianz unter der Führung Saudi Arabiens. Die Eskalation führte zu einer Massenflucht: Laut UNHCR haben mehr als 120.000 Menschen den Jemen verlassen und Schutz in anderen Ländern gesucht.

Bab el-Mandab – das ‘Tor der Tränen’ – heißt die 27 Kilometer breite Meeresstraße, die den Süden des Jemen von Dschibuti trennt. Der Name leitet sich von der langen Geschichte an Tragödien ab, die sich hier ereignet haben: Unzählige Menschen haben beim Versuch, die Meeresstraße zu überqueren, ihr Leben gelassen.

Laut Tom Kelly, US-Botschafter in Dschibuti, haben 35.000 Flüchtlinge aus dem Jemen Zuflucht im kleinen Land am Horn von Afrika gefunden. Angesichts einer Bevölkerung von kaum einer Million Menschen sei diese Zahl bemerkenswert, meint der Diplomat. “Das ist, als wenn 13 Millionen Menschen in die USA kommen würden.”

Kelly zollt der Regierung von Dschibuti seinen Respekt: “Sie hat Tausenden das Leben gerettet. Sie verdient Anerkennung dafür, die Grenzen für Menschen geöffnet zu haben, die nirgendwo sonst hingehen konnten.”

Lagerschule bringt Hoffnung

Einige der Flüchtlinge haben Aufnahme in dem Lager der kleinen Hafenstadt Obock gefunden. Die Temperaturen steigen hier häufig auf über 40 Grad. Zu Spitzenzeiten waren 3.000 Flüchtlinge in dem Lager untergebracht, jetzt sind es etwa 1.000.

Ein amerikanischer Missionar hat im Lager eine Schule gegründet, um Kindern und jungen Erwachsenen eine Perspektive für ihre Zukunft zu ermöglichen. Marianne Vecchione aus Los Angeles arbeitet seit einem Jahr als Freiwillige für die Einrichtung. Sie ist überzeugt, dass die Schule eine sinnvolle Initiative ist.

“Bildung ist wichtig”, sagt Vecchione, “außerdem ermöglicht die Schule, dass die Eltern angesichts des engen Lagerlebens zu Pausen kommen. Aber eigentlich tun wir es, um den Flüchtlingen zu zeigen, dass sie eine Bedeutung und eine Zukunft haben.”

Als die Sonne untergeht, entdecken Kinder aus dem Jemen zwischen den Zelten eine Gruppe von Kamelen. Sie nähern sich vorsichtig und streicheln die Tiere – ein willkommene Abwechslung im sonst recht tristen Lageralltag. In den einfachen Zelten sind Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten untergebracht – vom armen Fischer bis zur relativ wohlhabenden Fachkraft aus der Mittelklasse.

Sehnsucht nach der Heimat

Der 25-jährige Saddam aus al-Hudaida, mit ca. 400.000 Einwohnern eine der größten Städte des Jemen, hat seine gesamte Existenz verloren. “Ich hatte alles”, klagt er. “Ich hatte einen Job und einen Internet-Shop, aber die Huthi-Rebellen haben mir alles genommen. Alles ist weg. Allein der Laden war wahrscheinlich 25.000 Dollar wert.”

Saddam lebt mit seinen zwei Brüdern im Lager, von seinem dritten Bruder fehlt jede Spur. Der Rest der Familie ist im Jemen geblieben. Seine Eltern sind immer noch in al-Hudaida, seine Schwester lebt in der Stadt Taizz im Bergland.

Trotz der vielen Entbehrungen versuchen viele Flüchtlinge ihren Sinn für Humor nicht zu verlieren. Willkommen im Mittelalter, lacht der 22-jährige Ali. Mit einem Tuch versucht er notdürftig den Zugang zum Zelt zu verhüllen, in dem er mit seiner Mutter und seinen fünf Geschwistern wohnt. Ali kommt aus der Hauptstadt Sanaa. Seine Familie hat sich zur Flucht entschlossen, nachdem Alis Vater bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war.

Etwas entfernt diskutiert eine Gruppe von Frauen darüber, was sie am meisten vermissen. “Zuhause bleibt Zuhause”, sagt eine aus der Gruppe. “Selbst wenn es uns woanders besser geht, kann man das nicht mit dem Ort vergleichen, wo wir unsere Kindheit erlebt haben – mit den Traditionen, den Parks, den Moscheen und der Kultur. Wir vermissen den Atem und die Wellen des Jemen. Wir vermissen die Ladenbesitzer, die Teil unseres täglichen Lebens waren.”

Wann die Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren können, ist derzeit völlig unklar. Im August wurden die Friedensgespräche in Kuwait nach 90 Tagen beendet – ohne Ergebnis. Die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Rebellen sind wieder voll im Gang.

Von Kriegserlebnissen traumatisiert

“Wann wird endlich Frieden sein?”, fragt ein 45-jähriger Mann, der anonym bleiben will. “Vielleicht in 30 Jahren, wenn die alte Generation gestorben ist und die Jungen friedfertiger sind?” Einigkeit herrscht unter den Jemeniten in Obock darüber, dass die Huthi-Rebellen für die meisten und schlimmsten Gräueltaten des Konflikts verantwortlich sind.

Marianne Vecchione erzählt von den Kindern, die in der Lagerschule Bilder zeichnen. Darauf seien zerbombte Häuser, tote Menschen und von Artillerie-Feuer zerfetzte Flüchtlingsboote zu sehen. Zudem würden viele Menschen im Lager unter schweren Traumata leiden.

Vecchione versucht zu helfen, wo sie kann – muss dafür aber auch Kritik einstecken. Immer wieder wird sie Flüchtlingen beschuldigt, ihre Schüler zum Christentum konvertieren zu wollen – und das obwohl die Schule nach dem jemenitischen Lehrplan einschließlich Koran-Unterricht vorgeht.

Es gab bereits einen Zeitpunkt, an dem die Verantwortlichen Marianne Vecchione aus Obock abziehen wollten. Aber sie entschied sich, zu bleiben. Wenn sie heute durch das Lager geht, begleitet sie ein Chor von freundlichen Zurufen: “Marianne! Marianne!”, ertönt es sowohl aus jungen als auch erwachsenen Kehlen. Es ist offensichtlich, dass viele Jemeniten sehr wohl zu schätzen wissen, was eine freiwillige Helferin für sie tut – trotz aller kulturellen und religiösen Unterschiede. (afr/IPS)

James Jeffrey