„Bonn ist zu einem Geheimtipp auf der internationalen Bühne geworden“

Mit rund 320.000 Einwohnern auf 141 Quadratkilometern ist Bonn eine vergleichsweise kleine Stadt. Aber keine andere Stadt dieser Größenordnung hat aus historischer Sicht eine dermaßen entscheidende Rolle gespielt.

Gegründet von den Römern vor 2.100 Jahren, war die Geburtsstadt Ludwig van Beethovens über 50 Jahre hinweg die Hauptstadt Deutschlands (1949-1990, Sitz der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages bis 1999).

Heute gilt Bonn als einer der am besten behüteten Schätze der europäischen Geschichte und der jüngeren Weltgeschichte.

IPS: Bonn war für mehr als ein halbes Jahrhundert das Zentrum weltweit führender Persönlichkeiten, die über die Zukunft Deutschlands und Europas entschieden haben. Was ist Ihrer Meinung nach das größte Geheimnis der Stadt Bonn aus dieser Zeit?

Sridharan: Die Tatsache, dass Bonn heute auf der internationalen Bühne – insbesondere im Bereich der Nachhaltigkeit – ein Geheimtipp geworden ist, kommt sicher aus den rund fünf Jahrzehnten, in denen Bonn die Hauptstadt für die erfolgreichste Demokratie auf deutschem Boden war. Bonn konnte auf dieses wertvolle Erbe zurückgreifen, als in der Bundesrepublik Deutschland die Entscheidung fiel, Bonn zur UN-Stadt zu machen.

Ashok Sridharan, Bürgermeister der Stadt Bonn

Ashok Sridharan, Bürgermeister der Stadt Bonn

IPS: Nach New York und Genf hat sich Bonn zu einem der weltweit größten Standorte für Organisationen der Vereinten Nationen entwickelt. Insgesamt 19 UN-Agenturen sind hier präsent. Und Ihre Stadt engagiert sich stark in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit auf kommunaler Ebene, in internationalen Jugendprojekten und im internationalen Dialog der Kulturen. Was sind Ihre aktuellen und zukünftigen Pläne für die Stadt?

Sridharan: Auf internationaler Ebene etabliert sich Bonn erfolgreich als Deutschlands UN-Stadt mit einem starken Fokus auf nachhaltigkeitsbezogene Themen. “UN Bonn – Shaping a Sustainable Future” lautet das gemeinsame Motto unserer Bonner UN-Agenturen. Mit dem UNSSC Knowledge Centre for Sustainable Development konnten wir in diesem Jahr eine weitere wichtige UN-Agentur bei uns begrüßen. Und im Dezember wird die „SDG Action Campaign“ der Vereinten Nationen ihr zentrales Kampagnenbüro in unserer Stadt eröffnen. Bonn hat sich zu einer Drehschreibe zum Thema Nachhaltigkeit entwickelt. Dabei spielen die Nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDG) eine zentrale Rolle.

Natürlich ist unsere Stadt auch dazu aufgerufen, dieses Thema in ihren eigenen Angelegenheiten aufzugreifen. Seit Jahren sind wir erfolgreich in der kommunalen Entwicklungszusammenarbeit tätig. Wir pflegen Partnerschaften mit Bukhara (Usbekistan), Cape Coast (Ghana), Chengdu (Volksrepublik China), La Paz (Bolivien), Ulaanbaatar (Mongolei) und Minsk (Belarus).

Darüber hinaus integrieren wir den Nachhaltigkeitsansatz lokal in unsere täglichen Abläufe. Wir fördern fairen Handel und nachhaltige Beschaffung ebenso wie umweltfreundliche Mobilität. Außerdem verstärken wir den Einsatz erneuerbarer Energien und fördern die soziale Interaktion sowie das Zusammengehörigkeitsgefühl in unserer Gemeinde.

Die Stadt Bonn beherbergt Zehntausende von Migranten, die fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Während Migration und Flüchtlinge längst die Titelseiten der Zeitungen in Europa dominiert haben, hat London seinem Bürgermeister Sadiq Khan einen überwältigenden Empfang bereitet. Khans pakistanischer Vater war Busfahrer, um seine Kinder zur Schule schicken zu können.

Die Stadt Bonn hat einen gewählten Bürgermeister, dessen Elternteile aus Indien und Deutschland kommen. Das ist ohne Zweifel eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten, und doch wird im Norden kaum der Wert von Migranten für die europäischen Volkswirtschaften hervorgehoben. Und noch weniger ist potenziellen Migranten im Süden bewusst, was sie in Europa erwartet: ein Schock, den sie aus ihrer Notsituation und aufgrund der Manipulation durch Schlepper kaum erkennen können.

IPS: Die Stadt Bonn ist auch eines der größten internationalen Medienzentren. Die Deutsche Welle organisiert hier jährlich das „Global Media Forum“ mit über 2.000 Fachleuten aus allen Kontinenten. Gibt es neue Initiativen Ihrer Stadt im Bereich der internationalen Information und Kommunikation?

Sridharan: Wenn Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt aus irgendeinem Grund nach Bonn kommen, nutzen wir jede Gelegenheit, das Bewusstsein für die besonderen Möglichkeiten unserer Stadt zu schärfen. Wir tun dies als Deutschlands UN-Stadt mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit, aber auch als Geburtsort von Ludwig van Beethoven, als wichtiges IT-Zentrum in Deutschland und vieles mehr. Unsere Kommunikation ist international ausgerichtet, und wir veröffentlichen sehr viele Inhalte in englischer Sprache, wie auf unserer speziellen Service-Website http://www.bonn-international.org oder in unserem „Bonn International Newsletter“.

IPS: Wie gehen Sie mit dem hohen Migrationsanteil in Ihrer Stadt um und welche Integrationsmaßnahmen haben Sie gesetzt? Wie viele Personen warten im Augenblick auf ihre Anerkennung als Asylwerber und wie stark ist in diesem Jahr die Zahl der Migranten gestiegen? Gibt es Klimaflüchtlinge? Wie schaffen Sie das Gleichgewicht zwischen dem, was als menschenwürdig erachtet wird, und der Notwendigkeit, an einer Politik festzuhalten und diese auch durchzusetzen?

Sridharan: Zwischen September 2015 und Februar 2016 erreichte die Zahl der Flüchtlinge ihren Höhepunkt. Rund 150 Menschen, die in Deutschland Schutz suchten, kamen pro Woche hier an. Das war eine große Herausforderung für alle: Für die Flüchtlinge, die mit einer unklaren Zukunft in einer neuen Umgebung konfrontiert waren. Für unsere Verwaltung, die der enormen Aufgabe gegenüberstand, eine temporäre Unterbringung für eine große Anzahl von Menschen – darunter auch stark traumatisierte Flüchtlinge – zu gewährleisten. Und zu guter Letzt für unsere Bürgerinnen und Bürger, die mit vielen verschiedenen neuen Nachbarn mit fremden Sprachen und fremden Kulturen in Berührung kamen! Es waren schwierige Monate, zumal wir mehrere hundert Flüchtlinge in unseren Sporthallen unterbringen mussten. Gleichzeitig stellten unzählige Freiwillige fest, dass Bonn in der Lage ist, diese Flüchtlinge wirklich willkommen zu heißen und gut zu versorgen.

Es ist eine Erleichterung sagen zu können, dass sich die Situation heute etwas entspannt hat. Wir beherbergen 3.000 Flüchtlinge in kommunalen Unterkünften, darunter eine wachsende Anzahl mit dauerhaftem Aufenthaltsstatus. Weitere 3.000 Menschen haben nach ihrem erfolgreichen Asylantrag in Bonn eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Die Zahl der Asylbewerberinnen und Asylwerber ist zurückgegangen, da unsere Behörden derzeit keine Flüchtlinge mehr nach Bonn schicken. Menschen, die aus Staaten kommen, die als sichere Herkunftsländer gelten, müssen nachhause zurückkehren. Das tun sie oft freiwillig.

Der Geburtsort von Ludwig van Beethoven

Der Geburtsort von Ludwig van Beethoven

Gleichzeitig konnten wir die Qualität unserer angebotenen Unterkünfte verbessern. Niemand muss mehr in einer Sporthalle ohne privaten Rückzugsraum schlafen. Die temporären Unterbringungen, die wir anbieten können, haben zwar noch provisorischen Charakter, aber mit etwas Privatsphäre und Unabhängigkeit. Außerdem schaffen wir es nun, preisgünstigere Wohnungen zu errichten, die uns bereits gefehlt hatten, bevor die Flüchtlinge in Bonn ankamen.

Wir tun unser Bestes, um die Flüchtlinge hier zu integrieren: Sie können Sprachkurse besuchen. Internationale Klassen, die auf die deutschen Schulen vorbereiten, wurden eingerichtet. Unser Jobcenter betreibt einen eigenen „Integration Point“, der Dienstleistungen für Menschen anbietet, die in Deutschland arbeiten und bleiben wollen.

Die Flüchtlinge kommen aus vielen Ländern. Die größte Gruppe mit derzeit rund 1.100 Personen bilden Menschen aus Syrien. Ob die wenigen anderen Flüchtlinge aus Afrika sogenannte Klima-Migranten sind oder nicht, wissen wir nicht.

Und zum Schluss: Wir haben viele Migrantinnen und Migranten in Bonn. Flüchtlinge, die eine besondere Unterstützung für ihre Integration in unsere Stadt und in unsere Gemeinschaft brauchen, machen allerdings nur einen kleinen Anteil aus. Es ist hilfreich, dass die Strukturen, die wir für unsere wachsende internationale Community in Bonn etabliert haben, bereits vorhanden sind – für Menschen, die zur Arbeit oder zum Studium nach Bonn kommen oder hierher mit ihrer ganzen Familie ziehen.

Wir leben in Bonn den Grundgedanken der Agenda 2030 “Niemand soll zurückgelassen werden” genauso wie andere Städte in Deutschland, Europa und auf der ganzen Welt.

Im Dezember hat der Papst zu einem europäischen Treffen der Stadtoberhäupter in den Vatikan eingeladen. Dabei geht es um einen Erfahrungsaustausch unter den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, wie wir Flüchtlinge willkommen heißen. Ich freue mich, unsere Erfahrungen bei dieser Gelegenheit zu teilen.

IPS: Die Stadt Bonn hat immer an nachhaltigen Projektpartnerschaften gearbeitet und ihren Beitrag zur internationalen Zusammenarbeit geleistet. Was sind Ihre neuen Initiativen im Bereich der internationalen Zusammenarbeit?

Sridharan: In einer globalisierten Welt mit ihren engen Netzwerken und starken Abhängigkeiten müssen Städte auf internationaler Ebene zusammenarbeiten. Dies gilt vor allem für Städte wie Bonn – eine Stadt, die als UN-Stadt, Wirtschaftsstandort und Knotenpunkt der Wissenschaft immer enge Kontakte rund um den Globus gepflegt hat. Wir sind Teil einer Reihe von verschiedenen internationalen Städtenetzwerken. Im Oktober wurde ich zum Vizepräsidenten von ICLEI gewählt. ICLEI ist ein Städtenetzwerk für Nachhaltigkeit mit über 1.500 Mitgliedern weltweit. Jedes Jahr treffen sich mehrere hundert Städtevertreterinnen und -vertreter in Bonn, um während der „ICLEI Resilient Cities Conference“ aktuelle Themen zur Klimaanpassung und zur Belastbarkeit von Städten zu diskutieren. Wir werden versuchen, diese Art der Zusammenarbeit in der Zukunft zu intensivieren.

Auch die Kooperation mit unseren Partnerstädten aus Afrika, Südamerika und Zentralasien spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. In den letzten Jahren haben wir ein Projekt mit unserer Partnerstadt Cape Coast in Ghana für die Wiederherstellung einer Süßwasserlagune durchgeführt. Mit La Paz haben wir soeben ein gemeinsames Projekt zur Abfalltrennung und -entsorgung eingeleitet. Ich bin überzeugt, dass die kommunale Zusammenarbeit immer wichtiger wird. Funktionierende Städte und Gemeinden sind bei der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung und Strukturen von größter Bedeutung. Dies gilt insbesondere, wenn wir uns die Krisenregionen in Nordafrika, im Nahen Osten und in Südwestasien ansehen. Ich bin zuversichtlich, dass die Gemeinden einen kleinen, aber dennoch wichtigen Beitrag zur Konsolidierung der Verwaltungsstrukturen in diesen Ländern leisten können.

IPS: Ihre Stadt ist Gastgeberin von wichtigen Konferenzen, Ihre Stadt agiert pro-aktiv gegen den Klimawandel. Obwohl sich die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister täglich mit den dringlichsten Entwicklungsproblemen befassen müssen, wird nur ein sehr geringer Anteil der globalen Entwicklungsfinanzierung – Berichten zufolge in Höhe von 1% – von den lokalen Regierungen verwaltet. Arbeiten Sie mit Ihren Amtskolleginnen und -kollegen weltweit zusammen, um die Ressourcenverteilung zu korrigieren oder zu verbessern?

Sridharan: Die kommunale Entwicklungszusammenarbeit, also die Zusammenarbeit von Städten und Gemeinden weltweit, ist ein Politikbereich, der zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Bundesregierung hat das erkannt und die Finanzierung der kommunalen Zusammenarbeit mit Schwellen- und Entwicklungsländern erheblich verstärkt. Tatsächlich können Städte und Gemeinden nur einen kleinen Anteil an der globalen Zusammenarbeit leisten. Doch praktische Erfahrung, persönlicher Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern und ein Austausch auf Augenhöhe machen die kommunale Zusammenarbeit zu einem unverzichtbaren Element der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.

Die Festlegung eines separaten Ziels für Städte unter der Agenda 2030 und die Annahme der „New Urban Agenda“ während der Habitat-III-Konferenz in Quito Anfang Oktober sind ermutigende Signale in diese Richtung.

Im Jahr 2050 werden vier von fünf Menschen weltweit in Städten leben. Die Staats- und Regierungschefs müssen lernen, dass die globalen Entwicklungsziele nicht ohne Einbeziehung der Städte erreicht werden können. Das bedeutet, dass die Städte die notwendigen Mittel erhalten, um ihre wichtigen Aufgaben zu erfüllen. Zusammen mit meinen Bürgermeister-Kolleginnen und -Kollegen aus anderen Städten werde ich mich weiterhin für mehr Unterstützung für die lokale Ebene einsetzen.

IPS: Wo sehen Sie Ihre Stadt in der Zukunft? Was ist Ihr Traum, Ihre Vision für die Stadt Bonn? Wie wollen Sie Bonn weiterentwickeln?

Sridharan: Ich denke, Bonn ist auf einem guten Weg: Als zweites politisches Zentrum in der Bundesrepublik und Deutschlands UN-Stadt erfüllen wir für unser Land eine Reihe nationaler Aufgaben. Wir haben uns einen guten Ruf als IT-Zentrum erarbeitet und rangieren bei der Zahl an Beschäftigten in diesem Bereich deutschlandweit an vierter Stelle. Wir sind die Heimat von einigen Global Players wie die Deutsche Post DHL Group oder die Telekom und von einigen außergewöhnlichen wissenschaftlichen Institutionen, die Spitzenforschung betreiben. Als Geburtsort von Ludwig van Beethoven freuen wir uns, im Jahr 2020 den 250. Geburtstag unseres berühmtesten Sohnes feiern zu können.

Ich bin mir bewusst, dass es eine Menge Dinge gibt, die gepflegt und gestärkt werden müssen. Wir werden Bonn weiter zu einem Ort des Dialogs und des Austausches zu globalen Fragen über die Zukunft der Menschheit entwickeln. Das ist mein erklärtes Ziel. Aber unser wichtigstes und größtes Gut sind die Bonner Bürgerinnen und Bürger – gut ausgebildet, dynamisch, aufgeschlossen und mit ihrer rheinischen Frohnatur.

Baher Kamal