Marokko: Der Traum von Europa verblasst

Nador (IPS/afr). Aufgrund seiner stabilen wirtschaftlichen Entwicklung und seines vergleichsweise friedlichen politischen Klimas ist Marokko seit jeher ein beliebtes Transitland. Nun lassen sich immer mehr Migranten in dem nordafrikanischen Land nieder. Bei vielen lebt der Traum von Europa aber weiter.
Nicht mehr als 15 Kilometer beträgt die Distanz zwischen der spanischen Exklave Melilla und der marokkanischen Küstenstadt Nador. Hier am nordöstlichen Ausläufer des Rifgebirges träumen viele Afrikaner und eine zunehmende Zahl von Syrern von einem besseren Leben in Europa.

Die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta sind die einzigen Gebiete auf dem afrikanischen Kontinent, die eine Landgrenze mit der Europäischen Union aufweisen. Beide Städte gelten als High-Tech-Bastionen – dennoch nimmt der Migrationsdruck stetig zu.

Jedes Jahr versuchen hunderte von Menschen die Zäune zu überqueren. Anfang Dezember 2016 durchbrachen mindestens 400 Migranten den Grenzzaun von Ceuta. Am 1. Jänner 2017 versuchten weitere 1.100 Personen, den Zaun zu stürmen.

Gefährliche Überfahrt

Als Alternative zur Überwindung der Zäune von Melilla und Ceuta bleibt nur die Überquerung des Mittelmeeres. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind im letzten Jahr 8.162 Migranten über die westliche Mittelmeer-Route nach Spanien gelangt. 69 Personen haben die Überfahrt nicht überlebt.

Die Mehrheit der Migranten in Marokko seien männliche Erwachsene zwischen 18 und 59 Jahren, sagt Miguel Hernandez Garcia, Koordinator des Rechtshilfe-Programms der Vereinigung Droit et Justice.

Garcia meint, dass sich das Bild von Europa unter den Migranten langsam zu wandeln beginnt: “Einige stehen in Kontakt mit Freunden und Bekannten, die Europa bereits erreicht haben. Sie erfahren, dass die Lebensbedingungen dort nicht mehr das sind, was sie früher einmal waren. Das Bild über das Leben in Europa hat sich verändert – deshalb wollen einige Migranten in Marokko bleiben. Es ist zwar kein super-entwickeltes Land, aber auch kein super-armes Land.”

Neue Migrationspolitik

Marokko ist der erste arabische Staat, der Migranten ohne Dokumente die Möglichkeit bietet, einen ständigen Aufenthaltstitel zu bekommen. Im Jahr 2013 hat König Mohammed VI. den Anstoß für eine neue Migrationspolitik gegeben, nachdem er vom Nationalen Rat für Menschenrechte entsprechende Empfehlungen erhalten hatte.

“Marokko wollte der Welt das Gesicht eines gastfreundliches Landes zeigen”, sagt Garcia, “es war eine kluge Idee, sich der internationalen Gemeinschaft als weltoffener Staat mit humanitären Gesinnung zu präsentieren. Außerdem ist es eine gute Sache für die Wirtschaft.”

Binnen zwölf Monaten wurden mehr als 90 Prozent der insgesamt 27.000 Migranten registriert. Trotz der Fortschritte besteht aber noch enormer Verbesserungsbedarf. “Im Grunde geht es dabei darum, Migranten den Zugang zu ihren Rechten zu gewähren”, erklärt Garcia, “seit der Verkündigung der neuen Migrationspolitik sind aber bereits drei Jahre vergangen, ohne dass ein offizielles Gremium für ihre Umsetzung bestellt worden ist.”

Keine Perspektive im Heimatland

Eine große Herausforderung stellen für die Regierung jene Migranten dar, die sich nicht registrieren lassen, weil sie weiter nach Europa wollen. Einer von ihnen ist Mhamed Diaradsouba (24) aus Côte d’Ivoire. Im November 2016 traf die Nachrichtenagentur IPS Diaradsouba erstmals zu einem Gespräch.

Der Ivorer hatte seine Frau und seinen einjährigen Sohn in seinem Heimatland zurückgelassen. Er war fast 5.000 km von Abidjan über Mali und Algerien nach Nador gereist. Diaradsouba hoffte, in Europa genug Geld zu verdienen und eines Tages zu seiner Familie zurückzukehren.

“Wo ich wohnte, gab es keine Arbeit”, erzählte Diaradsouba, “ich konnte einfach nicht genug Geld zum Überleben auftreiben.” Also wäre er nach Marokko gekommen, um später nach Spanien weiterzureisen.

Diaradsouba gab sich im Interview optimistisch, dass das Vorhaben gelingen würde: “Ich bin mir sicher, dass ich in Spanien, Frankreich, Belgien oder Deutschland einen Job finden und Geld verdienen werde.”

Weil er keine Dokumente bei sich hatte, war er stets auf der Hut vor der Polizei. Straßenpatrouillen führten häufig Kontrollen durch, Migranten ohne Papiere wurden verhaftet.

Katastrophale Zustände im Waldlager

Aus diesem Grund hielt sich Diaradsouba in der ländlichen Gemeinde Khamis Akdim versteckt, die 15 Fahrminuten von Nador entfernt liegt. Hier hatten er und 300 weitere Migranten in einem nahegelegenen Wald ein provisorisches Lager errichtet.

Die Lebensumstände beschrieb er als katastrophal: “Wir campieren in Büschen auf einem Hügel. Das Leben hier ist nicht einfach. Wir müssen jeden Tag weit gehen, um Wasser und Essen zu holen. Wir schlafen in Plastikzelten. Wenn es regnet, wird alles nass. Ich habe keinen Koffer mitgebracht, meine gesamte Kleidung trage ich am Leib.”

Die Angst vor der Polizei wäre sein stetiger Begleiter gewesen, so Diaradsouba. “Sie wissen nicht, was Menschenrechte sind. Daher bleibe ich besser im Wald.” Die anderen Lagerbewohner kamen vor allem aus Kamerun, Guinea und Mali.

Häufige Polizeikontrollen

Aziz Kattouf, ein Aktivist der Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte (AMDH), bestätigt die schrecklichen Zustände in dem Waldlager von Nador. Er gibt aber auch zu, dass sich die Migranten dort an einem wesentlich sicheren Ort befinden würden als beispielsweise in Nador.

“Dort sind sie weit von den Augen der Polizei entfernt”, sagt Kattouf, “sie wollen nicht bleiben, ihre einzige Hoffnung ist die Überquerung.”Der Aktivist ergänzt, dass es noch weitere vier Waldlager gäbe, in denen unregistrierte Migranten ihre Zelte aufgeschlagen hätten.

Alle zwei oder drei Wochen würden Polizisten in den Lagern einfallen, so Kattouf. “Sie verhaften die Männer und manchmal auch Kinder, zerstören ihre Zelte und konfiszieren die Telefone”, berichtet der Aktivist, “viele werden mit Bussen in andere Gebiete im Süden Marokkos geschickt, aber sie kommen immer wieder in die Lager zurück.”

Keine Probleme mit Einheimischen

Die Anwesenheit der Migranten hat auch den Alltag der Bewohner von Khamis Akdim verändert – auch wenn bislang keine Fälle von Übergriffen oder Rassismus bekannt geworden sind. Stattdessen würden die lokalen Bauern Solidarität zeigen, sagt der Berber-Vertreter Alwali Abdilhate.

“Wir pflegen gute Beziehungen zu den Camp-Bewohnern”, erzählt Abdilhate, dessen Familie unmittelbar am Weg zum Lager wohnt. “Früh am Morgen gehen sie zu den Bächen und Wasserlöchern, um ihre Kleidung zu waschen. Sie kaufen Nahrung auf unserem Markt. Außerdem gibt es eine Bar, wo sie ihre Handys aufladen können.”

Ein paar Wochen nach Interview im November 2016 hat Mohamed Diaradsouba IPS kontaktiert. Der Ivorer hat es in der Zwischenzeit mit einem Boot nach Almeria in Spanien geschafft. Für die zwölfstündige Seereise bezahlte er 2.500 Euro. (Ende)

Fabíola Ortiz