Nigeria: “Irreguläre Migration ist Selbstmord”

Benin City (IPS/afr). In der Kampagne “Migrants as Messengers” (MaM) der Internationalen Organisation für Migration (IOM) warnen Rückkehrer vor den Gefahren einer irregulären Migration nach Europa. Sam Olukoya hat die Freiwilligen bei ihrer Arbeit in Benin City, Hauptstadt des Bundesstaates Edo, beobachtet.

“Geht nicht davon aus, dass sich Eure Vermögenssituation verbessert”, ruft eine weibliche Stimme aus einem Lautsprecher am Uselu-Markt in Benin City. “Viele haben sich auf den Weg gemacht und sind gescheitert, viele sind in der Sahara gestorben.”

Die Frau, die so eindringlich vor einer irregulären Migration nach Europa warnt, ist freiwillige Mitarbeiterin der MaM-Kampagne. Insgesamt 15 Freiwillige sind heute am Uselu-Markt unterwegs. Sie eint dasselbe Schicksal: Sie alle haben es nicht nach Europa geschafft und sind im Rahmen der Gemeinsamen Initiative von EU und IOM für den Schutz von Migranten und Reintegration in ihr Heimatland zurückgebracht werden.

Für die meisten der Rückkehrer war in Libyen Endstation. Als Kommunikatoren sollen sie nun von ihren Erfahrungen berichten und vor einer irregulären Migration nach Europa warnen. Die direkte Auseinandersetzung mit Landsleuten – wie hier am Uselu-Markt von Benin City – gilt dabei als besonders wirksam.

Sensibles Thema

Die Stimmung am Markt droht allerdings zu kippen, als die junge Frau über den Lautsprecher eine im Bundesstaat Edo weitverbreitete Praxis kritisiert: Arme Mütter würden ihre Kinder ermutigen, sich auf die gefährliche Reise zu begeben, um ihre Familien zu unterstützen. “Einige unserer hier anwesenden Mütter haben ihre Kinder auf die libysche Route geschickt”, sagt die Rückkehrerin. “Das ist schlimm. Sie sollten sich vorher besser informieren, denn auf dieser Route gibt es nichts.”

Die Reaktionen auf die Vorwürfe sind vehement. Wütende Frauen schreien die MaM-Mitarbeiterin an. Sie bestehen darauf, dass die irreguläre Migration angesichts der wirtschaftlichen Situation im Land unvermeidlich sei. Nigeria erholt sich nur langsam von der katastrophalen Rezession von 2016. Viele Familien sind in die extreme Armut abgerutscht.

“Einige der guten Häuser in Benin City wurden mit Geld derjeniger gebaut, die via Libyen nach Europa gegangen sind”, erzählt eine junge Mutter. Eine andere Frau argumentiert, dass es unfair sei, Menschen vor irregulärer Migration zu warnen, wenn sie nicht mit dem Flugzeug reisen dürften.

11.500 Migranten rückgeführt

Im Bundesstaat Edo ist die Migrationsbereitschaft besonders hoch. Daten aus der Gemeinsamen Initiative von EU und IOM zeigen, dass seit Mai 2017 die Hälfte aller 11.500 Migranten, die nach Nigeria zurückgeführt wurden, aus Edo stammen. Deshalb ist Benin City mit seinem stark besuchten Uselu-Markt in den Mittelpunkt der Aufklärungskampagne gerückt.

Die freiwilligen Mitarbeiter des MaM-Kampagne sind häufig mit Anfeindungen konfrontiert. Einer von ihnen, Jude Ikuenobe, erzählt, wie er damit umgeht. Er zeigt Fotos, die dokumentieren, wie er stark abgemagert aus seiner Haft in Libyen zurückgekehrt ist. Außerdem schildert er das Schicksal von Freunden, die in der Sahara oder im Mittelmeer ihr Leben verloren haben.

Im Bundesstaat Edo werden die Verstorbenen traditionell in der Nähe ihrer Angehörigen begraben. Ikuenobe berichtet seinen Zuhörern, wie tragisch es ist, wenn die leblosen Körper in der Wüste zurückgelassen werden. Er ist überzeugt, dass er mit seinen Geschichten schon viele Menschen von einer Reise nach Europa abgehalten hat.

Sorge um Angehörige wächst

Die aufgebrachte Stimmung am Uselu-Markt beruhigt sich, als die Frauen die Fotos sehen. Einige von ihnen fühlen sich jetzt sogar ermutigt, ihre eigenen Erfahrungen preiszugeben. Ein Mädchen gibt zu, dass ihre Freundin im Mittelmeer ertrunken sei. Ein Mann berichtet, dass zwei seiner Freunde bei der Überfahrt umgekommen sind. “Einer von ihnen hatte zwei junge Töchter”, erinnert er sich.

Andere Zuhörer auf dem Uselu-Markt reagieren auf die Geschichten mit Sorge um ihre Angehörigen, die sich bereits auf den Weg gemacht haben. Pius Igede bricht in Tränen aus. Er weiß derzeit nicht, wo sich seine Tochter befindet. “Sie hat nur angerufen, dass sie nicht mehr im Land ist”, sagt Igede. Dann fügt er hinzu, dass auch einige seiner anderen Kinder nach Europa aufbrechen wollen.

Igede will seine Kinder überzeugen, in Nigeria zu bleiben. Er sammelt die Poster und Flugblätter der MaM-Kampagne ein. Darauf sind Appelle wie “Vermeide die Selbstmord-Mission” oder Erfahrungsberichte wie “Ich wurde zur Prostitution gezwungen” zu lesen. Igede sagt, er habe Angst bekommen, als er die Poster sah: “Ich fürchte, dass meine Kinder ohne mein Wissen aufbrechen werden.”

Einseitige Wahrnehmung der Chancen

Osita Osemene kämpft mit der NGO “Patriotic Citizen Initiatives” (PCI) gegen die irreguläre Migration. Er sagt, dass die MaM-Kampagne schon viele Menschen überzeugen hätte können, die gefährliche Reise zu unterlassen. Vor allem die persönlichen Erfahrungen von Rückkehrern würden ihre Wirkung nicht verfehlen.

Er erklärt, dass in weiten Teilen der Bevölkerung ein verklärtes Bild über das Thema Migration existiert. Viele Menschen gingen immer noch davon aus, dass es ein jeder nach Europa schaffen kann und dort Erfolg haben wird. “Sie waren überrascht, als wir ihnen zeigten, wie ihre Landsleute das Mittelmeer mit kaum seetüchtigen Booten überqueren”, sagt Osemene.

Auch Jude Ikuenobe ist überzeugt, dass das Informationsdefizit behoben werden muss, um das Problem der irregulären Migration wirkungsvoll zu bekämpfen. “Viele Mütter haben keine Bildung”, erklärt er, “sie wollen unbedingt, dass ihre Kinder Erfolg haben. Wir müssen ihnen klar machen, dass irreguläre Migration keinen Erfolg bringen wird.”

Laut Ikuenobe wird die MaM-Kampagne weitgeführt, um möglichst viele Menschen zu erreichen. “Die Botschaft lautet: Selbst wenn die Dinge zu Hause schlecht sind, ist das keine Rechtfertigung für Selbstmord. Es ist, als würden Sie sich umbringen, wenn Sie versuchen, durch die Wüste und das Meer nach Europa zu reisen.” (Ende)

Sam Olukoya